Nachhaltigkeit und Stadtfinanzen
Bund, Länder und Kommunen in Deutschland steuern auf eine neue Finanzkrise zu. Für Bürgermeister Stockhoff ist ein gesellschaftliches Umdenken über Standards und Ansprüche unvermeidbar.
Eine gesellschaftliche Debatte über Standards, Ansprüche und eine neue Ethik der Mitverantwortung stößt Bürgermeister Tobias Stockhoff an. In seiner Rede am Mittwoch vor dem Rat der Stadt zur Vorstellung der Dorstener Finanzplanung für 2025 sagte er: „Unser Land steuert in eine sozial-demographische, ökonomische und ökologische Katastrophe. Wenn wir nicht bald den Mut besitzen, zu erkennen, dass wir über unsere Verhältnisse leben, dann wird unser Land Herausforderungen nicht meistern können. Aber diese Botschaft ist so abstrakt, dass wir sie gerne verdrängen.“
Stockhoff skizzierte in seiner Rede die grundlegenden Probleme, die dafür mitverantwortlich sind, dass die Städte in Deutschland auf eine neue Finanzkrise zusteuern:
- Aktuell scheiden pro Jahr 1 Million Menschen aus dem Berufsleben aus – aber nur 700.000 rücken nach. Das heißt, 7 müssen die Arbeit von 10 erledigen, müssen die Steuern und die Sozialabgaben von 10 erwirtschaften.
- Deutschland hat etwa zur Jahresmitte so viele natürliche Ressourcen verbraucht, wie in einem Jahr erneuert werden können.
- Die Staatsschulden wachsen schneller, als unsere Kinder und Enkel sie zurückzahlen können.
Statt nachhaltig auf diese Probleme zu reagieren, passiere in Deutschland aktuell das Gegenteil: „Wir haben weniger Arbeitskräfte und diskutieren über mehr Freizeit – das ist ein Brandbeschleuniger für den Fachkräftemangel. Wir debattieren die Lockerung der Schuldenbremse – nicht für Zukunftsinvestitionen, sondern für Standardanhebungen. Und wir betrachten die Herausforderungen des Klimawandels als reine Aufgabe des Staates.“
Notwendig sei ein Umdenken über staatliche Leistungen und Standards, eine an den vorhandenen Ressourcen orientierte Priorisierung von Aufgaben, eine Optimierung von Prozessen und eine stärkere Ausrichtung auf soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit. Zugleich wirbt der Bürgermeister für eine „neue Ethik der Mitverantwortung“, die alle Menschen zu „Problemlöserinnen und Problemlösern“ macht.
Tobias Stockhoff: „In dieser Diskussion werden wir über unser Grundverständnis von Staat und Gesellschaft stärker miteinander ins Gespräch kommen müssen. Dazu lade ich herzlich nicht nur diesen Rat ein, sondern auch die Verwaltung und die Bürgerschaft. So viel ist sicher: Ohne einen breiten Konsens in der Gemeinschaft für mehr Mitverantwortung werden wir diesen Weg nicht erfolgreich meistern.“
Der Grund für diesen dringenden Warn- und Weckruf von Bürgermeister Tobias Stockhoff ist der Haushaltsentwurf 2025 der Stadt Dorsten, der mit einer Lücke von knapp 21 Millionen Euro schließt.
Eine Entwicklung, mit der Dorsten nicht alleine steht: Fast allen Kommunen in NRW und allen zehn Städte im Kreis Recklinghausen droht in den nächsten Jahren die bilanzielle Überschuldung. Dazu kommen Fachkräftemangel und massive Problemstellungen bei der Unterhaltung und Sanierung der bestehenden Infrastruktur.
Dramatisch wird die Situation in der mittelfristigen Planung, da auch die Daten für die Jahre bis 2028 in Dorsten hohe Fehlbeträge ausweisen: 2025 bis 2028 in Summe 126,6 Mio Euro. „Die Entwicklung dynamisiert sich“, sagt Stadtkämmerer Karsten Meyer.
Nahezu allen 396 Kommunen in NRW geht es ähnlich, vielen noch schlechter. Laut einer Umfrage des Städte- und Gemeindebundes werden 332 von ihnen den Haushalt 2025 nur durch einen Griff in die Reserven ausgleichen können und 240 Städte ihre Rücklagen bis 2028 vollständig aufbrauchen. Allein den zehn Städten im Kreis Recklinghausen fehlen für 2025 insgesamt 265 Mio Euro, das Defizit der nächsten vier Jahre wird für den ganzen Kreis 1,2 Milliarden Euro betragen.
Viel Einsparen konnte die Stadt in der Aufstellung des Haushaltsentwurfes nicht: „Wir haben uns gemeinsam mit den Fachämtern jede Position angesehen. Aber nach den langen und sehr erfolgreichen Jahren der Konsolidierung haben wir nicht mehr das Potenzial, Kosten- und Aufgabensteigerungen aus eigener Kraft zu kompensieren. Über 90 % der negativ auf den Haushalt einwirkenden Veränderungen sind von uns nicht gestaltbar“, so Meyer. Lediglich 1,25 Mio Euro konnten gegenüber dem ersten Haushaltsentwurf noch eingespart werden.
Einige Zahlen erläutern, wie das Defizit in 2025 entsteht:
Schlüsselzuweisungen des Landes: minus 6,0 Mio Euro.
Sach- und Dienstleistungen: plus 6,3 Mio Euro
- Digitalisierung der Verwaltung 700.000 Euro
- Verpflegungskosten in Kitas plus 200.000 Euro
- Schülerfahrtkosten plus 500.000 Euro
Personalkosten nach Tarifabschlüssen plus 8,4 Mio Euro
Zinsen und Abschreibungen plus 1,0 Mio Euro
Transferaufwendungen plus 7,5 Mio Euro
Dazu zählen u. a Betriebskostenzuschüsse an Kita-Träger, stationäre und ambulante Jugendhilfe, Unterhaltsvorschüsse oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Durch die Anwendung eines „globalen Minderaufwands“ von 2 % (= etwa 6 Mio Euro pro Jahr) auf den gesamten Haushalt – also die Annahme, dass nicht jeder geplante Betrag auch ausgegeben wird – sowie einen Verlustvortrag von rund 50 Mio Euro in den Jahren 2027 und 2028 kann das Defizit in 2025 auf rund 21 Mio Euro und für die Jahre bis 2028 auf insgesamt 102 Mio Euro gesenkt, zudem noch rund 21 Mio Euro Eigenkapital erhalten werden. So kann die bilanzielle Überschuldung bis 2028 verhindert werden und die vorläufige Haushaltsführung mit vollständiger Handlungsunfähigkeit mindestens in 2025. Bürgermeister Tobias Stockhoff: „Das Land hat den Städten diese Buchungsmöglichkeiten zugestanden. Aber das sind letztlich Tricks, die den finanziellen Tod der Kommunen nur hinauszögern. Langfristig ist überhaupt keine Perspektive sichtbar, wenn nicht Bund und Länder endlich mit Ausgaben- und Aufgabenkritik beginnen.“
Die aktuelle Entwicklung macht in nur vier oder fünf Jahren auch die mühsame und erfolgreiche Konsolidierung der Dorstener Finanzen ab 2012 zunichte: Seit diesem Jahr wurden 118 Mio Euro Liquiditäts- und 46 Mio Euro Investivkredite getilgt und ab 2017 über 72 Mio Euro Eigenkapital aufgebaut.
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